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Von Anfang Mai bis Mitte Juli  liefen alle Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen im Notbetrieb: Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hatte die dort in der Pflege Beschäftigten zum Streik aufgerufen. Denn ihren Angaben zufolge fehlen allein an den Uniklinken in NRW mehrere Tausend Fachkräfte. Den Streikenden ging es nicht vorrangig um mehr Lohn: Im Vordergrund stand vor allem die Forderung nach mehr Personal und besseren Arbeitsbedingungen, die einer guten Patientenversorgung angemessen sind. Das Ziel ist es, zu einer Einigung für einen „Tarifvertrag
Entlastung“ zu kommen.

Ole Sturm (34), Pflegeteamleitung auf der Onkologie-Station, Uniklinik in Köln Quelle: MedizinFoto

Ein Interview mit Ole Sturm (34), Pflegeteamleitung auf der Onkologie-Station an der Uniklinik in Köln.

Frage: Herr Sturm, trotz deutlich spürbarer Auswirkungen der Streiks war die Wahrnehmung des Ausnahmezustands in der Öffentlichkeit eher gering. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Antwort: Gute Frage. Ich glaube, dass die Bevölkerung einerseits durch die Corona-Pandemie gesättigt war im Hinblick auf Pflegesolidarität. Des Weiteren wird die prekäre Pflegesituation in Deutschland oft einfach so hingenommen. Für das Klagelied der Beschäftigten, das immer mal wieder aufwallt, sind die Ohren mittlerweile recht taub geworden.

Frage: Zu Anfang der Corona-Pandemie stand das Pflegepersonal sehr im Fokus, wurde gefeiert und allabendlich beklatscht. Wie kommt es, dass der Berufsstand dennoch immer wieder am Rande steht und nicht die Wertschätzung erhält, die er verdient?
Antwort: Das Thema Pflege, das muss man leider so sagen, interessiert kaum, wenn es gerade nicht gebraucht wird. Es ist dann nicht im Fokus der Wahrnehmung. Mit dem Thema Krankenhaus setzt man sich nicht freiwillig im Detail auseinander. Das passiert erst dann, wenn es notwendig wird. Außerdem wird Versorgung generell in Deutschland nicht besonders wertgeschätzt, es möchte keiner dafür extra zahlen. Wenn sie dann benötigt wird, dann soll sie trotzdem sofort bereitstehen und so reibungslos funktionieren, wie man es sich vorstellt. Aber keiner möchte dafür aufkommen, das vorhandene System bei uns in Deutschland zu unterstützen bzw. zu fördern, um es zu verbessern.

Frage: Meinen Sie denn, dass das ein typisch deutsches Phänomen ist?
Antwort: Ich glaube, dass andere Länder da durchaus anders mit umgehen. Wir in Deutschland sind in Bezug auf das Sozial- und Gesundheitssystem schon sehr gut aufgestellt, jeder bekommt hier sein Recht auf Behandlung. Die Kosten für den Versorgungsaufwand werden jedoch nicht ausreichend abgedeckt. Durch mehr Investitionen wären wir besser aufgestellt. Auch mehr private Vorsorgefinanzierung wäre hilfreich, also wenn jeder ein kleines bisschen mehr bezahlen würde, beispielsweise durch Zusatzversicherungen.

Frage: Ein kurzer Einblick in Ihren Arbeitsalltag vor dem Streik: Als wie belastend
empfanden Sie Ihre Arbeit?
Antwort: Ich persönlich streikte nicht, aber ich ermöglichte es meinen Mitarbeitenden. Ich bin da als Teamleitung sehr offen. Ich habe immer gesagt: Okay, wenn wir das gemeinsam durchziehen wollen, dann wird‘s halt gemacht, und dann gibt es auch volle Rückendeckung von mir. Ich empfand die Pflegesituation, die Besetzung der Stationen bereits lange vor dem Streik, auch vor Corona, als grenzwertig. Denn die Anforderungen seitens des Patientenklientels sind besonders an den Unikliniken sehr hoch. Die Menschen werden generell immer älter, kommen mit mehreren Vorerkrankungen zu uns. Dadurch steigt auch der Versorgungsbedarf. Und zwar nicht nur der medizinische: Wir haben es ja mit Menschen in Ausnahmesituationen zu tun, die auch mal ein offenes Ohr brauchen. Viel Zeit für ein Patientengespräch ist aber oft nicht gegeben. Zudem gibt es etwa speziell bei uns in der Onkologie immer mehr neue Therapiemöglichkeiten, die zum Einsatz kommen können. Das ist natürlich super, kann aber nur gut umgesetzt werden, wenn der Personalschlüssel stimmt. Da gibt es deutlichen Anpassungsbedarf.

Frage: In den Medien wurde darüber berichtet, dass die Ärztinnen und Ärzte nicht überall hinter dem Streik standen. Klinikvorstände warfen den Streikenden vor, den Arbeitskampf auf dem Rücken der Patientinnen und Patienten auszutragen. Wie kritisch ist das zu sehen?
Antwort: Aus dieser Warte betrachtet gibt es nie einen richtigen Zeitpunkt für einen Pflegestreik. Die Ärztinnen und Ärzte, mit denen ich zu tun habe, verstanden den Streik vom Personalstandpunkt aus, glaubten aber nicht, dass er die große Personalwende bringen würde. Sie hatten natürlich die Patienten vor sich, die dringend behandelt werden mussten. Da ging es um nicht verschiebbare, lebensnotwendige Behandlungen, die nicht jedes Krankenhaus durchführen kann und für die die Unikliniken nun mal da sind. Patienten mussten teilweise in andere Bundesländer verlegt werden. Das war aber aufgrund fehlenden Pflegepersonals auch vorher schon an der Tagesordnung. Da war schon ein bisschen der Appell seitens der Ärzteschaft, nicht unbedingt an die Pflege, sondern eher an das System, diesem unzumutbaren Zustand Einhalt zu gebieten. Es kann nicht sein, dass
Schwerkranke aus NRW nach Bayern geschickt werden. Sie haben dort keinen sozialen Zuspruch und können von ihren Angehörigen nicht besucht werden. Das ist natürlich dramatisch, denn sie könnten aufgrund ihres oft kritischen Therapiestatus dort ja sogar versterben.

Frage: Zu geringe Bezahlung, zu wenig Freizeit, fehlende Kolleginnen und Kollegen, mangelnde Wertschätzung im Beruf – was sollte sich am dringendsten ändern?
Antwort: Mir fehlen in erster Linie die Kolleginnen und Kollegen. Ich glaube, alles andere baut darauf auf. Die Pflege soll und will sich weiterentwickeln. Aber es gibt in der täglichen Praxis leider wenig bis gar keine Gelegenheit, all das umzusetzen, was geplant und getan werden könnte. Man ist immer nur damit beschäftigt, den Dienst möglichst gut zu überstehen mit seinem kleinen Team. Deswegen glaube ich, dass alles vor allem auf einer ausreichenden Personalbesetzung basiert. Dann wird auch die Wertschätzung wieder steigen – nicht nur von außen beziehungsweise seitens der Klinikleitung, sondern die Mitarbeitenden können dann wieder lernen, sich selbst für ihre geleistete Arbeit mehr zu schätzen. Die Jobzufriedenheit wird dann insgesamt wieder zunehmen.

Frage: Um wie viel müsste Ihrer Meinung nach aufgestockt werden, um eine bedarfsgerechte Arbeit ausüben zu können?
Antwort: Für den Gesamtbetrieb aller Unikliniken kann ich das nicht einschätzen. Ich würde jedoch sagen: Pro Schicht bräuchte man bestimmt mindestens eine Person mehr, zumindest in den Bereichen, in denen ich arbeite und die ich kenne. Es wird viel im Laufschritt erledigt, die Pflegenden arbeiten häufig am Limit. Ich glaube zwar, dass unsere Kölner Onkologie gar nicht mal so schlecht aufgestellt ist, aber es fehlt natürlich trotzdem noch an Personal. Dennoch ist es mir wichtig zu sagen, dass die Uniklinik an sich kein schlechter Arbeitgeber ist. Wir sind weiterhin in einer Vorreiterposition, sind im Vergleich zu anderen Krankenhäusern immer noch ganz gut besetzt. An der Uniklinik haben wir es allerdings auch mit sehr komplexen Patienten zu tun. Dadurch ist es natürlich auch gut begründet, warum wir auch hier mehr Personal brauchen. Vom Streik erhoffte ich mir, dass es in diese Richtung geht. Die Pflege interessiert sich zunehmend mehr für die politische Seite, sie duckt sich nicht mehr weg. Ich hoffe, dass künftig die neue Pflegekammer NRW im Verbund mit den
Gewerkschaften eine gute Lobbyarbeit machen kann, die bisher so nicht stattgefunden hat – zum Wohle der Mitarbeitenden und der Patientinnen und Patienten.

Der Streik endete am 20. Juli. Die ver.di-Tarifkommission akzeptierte ein mit den Arbeitgebern ausgehandeltes Eckpunktepapier. Es soll schrittweise ab dem 1. Januar 2023 umgesetzt werden.

Den gesamten Artikel können Sie in der aktuellen Ausgabe des Magazins Pflege & Familie lesen.

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